…statt die Polizei zu rufen?
Contentwarnung: Suizid, Waffen
Ich habe vor einigen Jahren schon mal einen recht persönlichen Text zum Thema verfasst:
Und auch dieser kurze Text gibt meine sehr persönliche Meinung wieder und kann natürlich diskutiert werden.
Was sich seit damals nicht groß geändert hat: Über Suizidabsichten zu reden, ist nach wie vor problematisch. Menschen werden -durchaus verständlicherweise- nicht gerne mit einem so umfassend belastenden Thema konfrontiert und neigen zum Beispiel zu großer Hilflosigkeit. Das führt dann manchmal zu einem fast reflexhaften Wunsch, das Problem ausgliedern zu wollen an professionelle Hilfe. (Und es gibt natürlich oft sehr gute professionelle Hilfe, leider aber in einem entsprechend im Kapitalismus knapp kalkuliertem Angebot von Kliniken, Therapeut*innen etc. und auch mit einem entsprechend komplett überlasteten System. Des Weiteren ist das Hilfesystem oft paternalistisch und mit Zwang verbunden, so dass Menschen -je nach persönlichen Erfahrungen- erst recht nachvollziehbar ablehnend reagieren.)
Zweifellos gibt es auch psychiatrische Krisen, die medikamentöse Behandlung erfordern. Akute schizophrene Schübe zB., aber auch verschiedene Formen und Ausprägungen von Depressionen.
Warum ich es aber nicht für sinnvoll erachte, die Polizei zu rufen:
Polizist*innen sind kaum ausgebildet für den Umgang mit Menschen in psychischen Krisen. In viel zu vielen Fällen hat das System Polizei gezeigt, dass es nicht angemessen deeskalierend umgehen kann mit Menschen in psychischen/psychiatrischen Krisen. Pfefferspray-, Taser- und Schusswaffeneinsatz zeigen dies in sehr trauriger Regelmäßigkeit. Oft führt dies sogar zum Tod der Person, die die Polizei eigentlich vor sich selbst schützen sollte. Polizei will überwältigen, Situationen in kurzer Zeit mit Macht- und Gewaltausübung beenden. Sich bei Überforderung zurückzuziehen, ist in dem Mindset gar nicht vorgesehen.
Weiterführende Links:
https://taz.de/Kriminologe-ueber-schiessende-Polizisten/!5805761&s/
https://taz.de/Polizei-toetet-Jugendlichen-in-Dortmund/!5870594/
https://taz.de/Psychologe-ueber-toedliche-Polizeischuesse/!5408530/
In einer akuten Krise mit Polizeigewalt konfrontiert zu werden, in der man vor allem Fürsorge benötigt, kann zu einer weiteren Traumatisierung führen.
Die Gründe für akute psychische/psychiatrische Krisen können sehr vielfältig sein:
Verluste, Trauer, Schock, drastische Änderungen der Lebenssituation, Einsamkeit, Abhängigkeiten, Krankheiten, finanzielle Unsicherheit etc.
Das führt zB. dazu, dass die bisher verfügbaren Verhaltensmuster kurz- oder langfristig nicht (mehr) funktionieren und ein möglicher Ausweg aus einer Situation selbst nicht mehr erkannt wird.
Und so vielfältig wie Menschen sind, so vielfältig sind deren Krisen und die daraus dann entstehenden Situationen, so dass es kaum allgemein gültige Ratschläge geben kann. Nichtsdestotrotz ist es sinnvoll, verschiedene Situationen/Fragen gedanklich zumindest durchzuspielen, bevor man tatsächlich damit konfrontiert ist.
Unterschiedliche konkrete Situationen:
- Sprache
- Sprecht ihr dieselbe Sprache oder braucht es Dolmetscher*innen?
- Waffen
- (Abstand wahren; Nicht selbst in Gefahr bringen!)
- Ort (draußen, drinnen, Fremdgefährdung)
- Drogenkonsum
- Welche Drogen/Medikamente wurden konsumiert? In welcher Menge? Kannst Du die Wirkung einschätzen? (Bei Bewusstlosigkeit: Krankenwagen/Notärzt*innen/Rettungsdienst anrufen)
- Ist die Person ansprechbar? Ist ein Gespräch möglich?
- Eigene Verfassung
- Wie belastend ist die Situation für Dich? Mit wem/wie kannst Du das verarbeiten?
- Eigene Ausbildung/Erfahrung
- Wie gut kennst Du die Person?
- Suizid und eigene Entscheidungen
- Für jemanden da sein? Vorsicht vor Abhängigkeiten. (Persönliche Geschichte dazu unten)
- Sich selbst fragen, ob man Entscheidungen (auch die für den eigenen Tod) akzeptieren kann?
- Psychische Krisen und eigene Entscheidungen (Akuter depressiver oder schizophrener Schub/Wahn…?)
- Hilfssysteme und Notfallkontakte (Psycholog*innen, Ärzt*innen, Therapie-/Selbsthilfe-Gruppen, (Akut-)Kliniken, Telefonseelsorge etc.)
- Aufbau von solidarischen Strukturen/Gruppen/Vernetzung
- Ambivalenzen verdeutlichen (Aufdröseln, was Gründe sein könnten, weiterleben zu wollen)
- Gründe besprechen für psychische Krise: Gibt es auslösende Faktoren? Was könnte helfen?
- Welche belastenden Faktoren könnte man bearbeiten? Was kann man loslassen/verändern?
- Welche Fluchtmöglichkeiten aus der Belastung könnte man ausprobieren? Wie bekommt man Distanz zu belastenden Faktoren?
- Notfallpläne erstellen; Orte, Handlungen; alles, was helfen könnte etc.
- Kontaktliste (auch mit persönlichen Kontakten; mit Menschen, die man in Notfällen auch nachts anrufen kann)
Hilfreiche Links etc.
https://www.mhfa-ersthelfer.de/de/was-ist-mhfa/guidelines/
Eine kurze sehr persönliche Anmerkung zu dem oben erwähnten Punkt, ob man für andere Menschen in einer suizidalen Situation da sein kann: Vor einigen Jahren in einer suizidalen Phase von mir hat mir ein Freund zugesagt, er wäre für mich da, also körperlich bei mir, falls ich irgendwann wirklich sterben wollen würde und dabei nicht alleine sein möchte. Das war damals eine für mich so großartige, liebevolle, respektvolle Aussage (und mit so einem krassen Grad an Verantwortung), dass es mir für den Moment sämtlichen Druck genommen hat. Das ist aber natürlich etwas, was man niemals erwarten und Menschen auch sehr belasten kann. (Von den eventuellen strafrechtlichen Problemen mal abgesehen.)
Und zum Schluss noch einen Lesetipp zum Umgang mit Emotionen/Krisen etc. in linken Kontexten/Gruppen: https://www.akweb.de/ausgaben/679/individualismus-und-leistungsfetisch-in-linken-gruppen-das-start-up-in-uns/