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Sexuelle Orientierung als Thema in Jugendarbeit und Schule

Heute hatten wir im Landtag ein Gespräch mit engagierten Menschen vom Sozialverein für Lesben und Schwulen (http://www.svls.de/) und mehreren Mitgliedern der Fraktion.

Es ging in weiten Teilen um deren Modellprojekt zum Ausbau der les- bi- schwulen Jugendarbeit. Hierbei wurde betont, dass gerade für Jugendliche das Thema schwierig und belastend ist und niedrigschwellige Angebote dringend notwendig. (Homosexuelle Jugendliche sind sehr häufig verschiedensten Arten von Diskriminierung ausgesetzt und haben ein deutlich höheres Selbstmordrisiko.) Wer sich hier einlesen möchte: Befragung von Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe zur Sitaution von lesbischen, schwulen und transgender Kindern, Jugendlichen und Eltern in München: http://www.muenchen.de/rathaus/Stadtverwaltung/Direktorium/Koordinierungsstelle-fuer-gleichgeschlechtliche-Lebensweisen/Jugendliche-Lesben-und-Schwule/Befragung.html
(Großstadt! Auf dem Land ist die Situation noch wesentlich schwieriger für betroffene Jugendliche.)

Ich habe danach überlegt, was ich zum Thema schreiben könnte. (Irgendwie habe ich die Sorge, es könnte anmaßend sein, über so ein sensibles Thema zu schreiben, bei dem ich gar nicht unmittelbar selbst betroffen bin. Ich habe also entschieden, dass ich es mit meiner Sicht auf 10 Jahre Tätigkeit als Lehrerin (und einige Jahre als Beratungslehrerin) versuche.)

Natürlich ist Homosexualität auch in Schule ein Thema. Ich vermute allerdings, dass die Jugendlichen, die ich als offen homosexuell lebend kennen gelernt habe, ihre Kämpfe damit bereits ausgefochten hatten, als sie zu uns ans Berufskolleg kamen. Dann sind sie so ab 15-17 Jahre alt. Die meiste Auseinandersetzung mit eigener sexueller Identität findet früher statt, also in der Sekundarstufe I. (Ich fände diesbezüglich einen Austausch mit Lehrer*innen dieser Schulstufe sehr spannend, was Projekte zum Thema oder Initiativen gegen Homophobie angeht.)

Trotzdem sind alle Fragen der Sexualität natürlich auch mit 17 noch spannend in Diskussionen und so bekommt gerade eine Deutschlehrerin recht viel mit in dieser Hinsicht, zum Beispiel über Polyamorie (wegen Brecht, der mehrere Frauen hatte und diese auch voneinander wussten). Diskussionen über Selbstmord (irgendwie haben sich in der Zeit des Expressionismus viele Dichter umgebracht (wenn sie nicht im Krieg oder durch Unfall starben), über Sadismus (Die Verwirrungen des Zöglings Törleß) usw.

(Zu Musil gab es übrigens kurz vor meiner Zeit an der Schule mal Eltern, die sich darüber beschwert hatten, dass wir es in der Schule gelesen haben….)
„Wollten Sie übrigens die Stunden der Erniedrigung zählen, die überhaupt von jeder großen Leidenschaft der Seele eingebrannt werden? Denken Sie nur an die Stunden der absichtlichen Demütigung in der Liebe! Diese entrückten Stunden, zu denen sich Liebende über gewisse tiefe Brunnen neigen oder einander das Ohr ans Herz legen, ob sie nicht drinnen die Krallen der großen, unruhigen Katzen ungeduldig an den Kerkerwänden hören? Nur um sich zittern zu fühlen! Nur um über ihr Alleinsein oberhalb dieser dunklen, brandmarkenden Tiefen zu erschrecken! Nur um jäh– in der Angst der Einsamkeit mit diesen düsteren Kräften – sich ganz ineinander zu flüchten!“ (Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (mittlerweile frei verfügbar: http://gutenberg.spiegel.de/buch/6905/1)

Und von Brecht gibt es Gedichte, an die ich mich auch nicht getraut habe (für den Unterricht…)

Ach. Deutschlehrerin. Ich schweife ab (wenn Sprache so emotional und so schön ist…)

Ich glaube, DAS Werk, was all diese Fragen spannend und aufwühlend inszeniert, ist Frühlings Erwachen von Wedekind (http://gutenberg.spiegel.de/buch/2611/1). Bei keinem Werk waren die Diskussionen so erbittert. Wedenkind hat in diesem großartigen, teilweise auch satirischen Stück (was man sich auch prima mal auf der Bühne ansehen kann) die zu seiner Zeit (1891) vorherrschende von Tabuisierung geprägte Sexualmoral. Außerdem geht es um den in den Schulen unmenschlichen Druck, der einen der Charaktere (Moritz) in den Selbstmord treibt, als er nicht versetzt wird. Was Themen der sexuellen Orientierung angeht, erreicht Wedekind eine ungewohnte Bandbreite: Sadomasochismus (Wendla bittet Melchior, sie zu schlagen), Abtreibung (Wendla stirbt bei der Abtreibung. Sie war ungewollt schwanger geworden beim Sex mit Melchior), Masturbation (Hänschen vernichtet die Reproduktion eines erotischen Kunstwerkes wegen seines schlechten Gewissens) und natürlich auch Homosexualität (Hänschen und Ernst). Für Melchior geht die ganze Geschichte immerhin gut aus. Zunächst will er auf dem Friedhof dem Beispiel seines Freundes Moritz folgen, weil er sich schuldig fühlt am Tod von Wendla. Der vermummte Herr (als deus ex machina) rettet ihn, indem er ihn zum Leben überredet.
(„Unter Moral verstehe ich das reelle Produkt zweier imaginärer Größen. Die imaginären Größen sind Sollen und Wollen. Das Produkt heißt Moral und läßt sich in seiner Realität nicht leugnen.“ (Dritter Akt, Siebente Szene))

Während Homosexualität (nach meiner Erfahrung) von vielen Schüler*innen (gerade in „höheren“ Bildungsgängen) bereits als etwas Normales angesehen wird, waren die Gespräche nach meiner Erfahrung am Erbittertsten bei der Szene, die sadomasochistische Praktiken andeutet („Das ist ja pervers“). Ich war naiv davon ausgegangen, dass sämtliche Praktiken heute im Fernsehen bereits gezeigt wurden und da kein Toleranzproblem für konsensuales Ausleben mehr besteht. Das ist aber scheinbar nicht so und hat mich an der Stelle überrascht. Ebenfalls kontrovers sind Diskussionen über Prostitution und Pornographie zum Beispiel.

Ich vermute durchaus, dass es auch heute noch vielen Schüler*innen und Lehrer*innen (!) schwer fällt, solche Themen einigermaßen entspannt zu besprechen. Ich schätze, hier ist gerade im Sinne von Arbeit für mehr Toleranz noch viel Aufklärung notwendig.

Bei den Überlegungen zu dem Thema ist mir zudem aufgefallen, dass es ausgesprochen wenige offen homosexuell lebende Lehrer*innen gibt. Das scheint (aus meiner Erfahrung bei Männern stärker als bei Frauen) weiterhin ein Tabuthema zu sein. Ich könnte mir aber vorstellen, dass Offenheit bei Lehrer*innen zwar sicher auch Angriffspunkt sein kann, jedoch auch Hilfe für Schüler*innen darstellen könnte, dies als etwas vollkommen Normales zu erleben und damit den Boden für Mobbing und Angriffe zu entziehen.